Naoji Kimura & Sprachlosigkeit zwischen Natur- und Geisteswissenschaft

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Ein Gespräch zwischen Prof. Naoji Kimura und Elisabeth Hellenbroich

HELLENBROICH: Herr Professor Kimura, Sie gehören heute zu den bedeutendsten Germanisten in Japan und gelten international als einer der renommiertesten Goetheforscher. Ihr erstes Fach an der Uni Sophia, Tokyo war Philosophie. Was hat Sie dennoch damals als junger Mann bewogen, deutsche Literatur zu studieren und für mehrere Jahre zum Studium nach München zu gehen?

KIMURA: Ich bin in Kreisen deutscher Patres und Nonnen des Franziskaner Ordens in Sapporo aufgewachsen. Als ich an der 1913 von den deutschen Jesuiten gegründeten Sophia-Universität in Tokyo studierte, kam unerwartet ein deutsches Akademiker-Ehepaar als Lektoren, um deutsche Sprache und Literatur zu unterrichten. So habe ich mein Studienfach von der Philosophie zur Germanistik gewechselt. Damals machte ihr Lehrer in der Theologie, Professor Michael Schmaus, der ehemalige Rektor der Universität München, eine Vortragsreise nach Japan. Bei der Gelegenheit habe ich ein paar Vorträge von ihm ins Japanische übersetzt. Außerdem besuchte bald darauf der Vizekanzler Ludwig Erhard auf seinem Staatsbesuch auch meine Universität. So kam es schließlich dazu, dass mir ein Stipendium des DAAD zuteilwurde. Ich verdanke also mein Münchner Studium dem deutschen „Wirtschaftswunder“.

HELLENBROICH: Zu den wichtigsten Forschungsschwerpunkten ihrer Arbeit gehört die Auseinandersetzung mit dem Werk Goethes und in den letzten Jahren im Besonderen mit dem Werk Alexander von Humboldts. In Ihrem Buch „Universalitätsanspruch und partikulare Wirklichkeiten“ (2007, Königshausen & Neumann) sprachen Sie von der besonderen Tradition der Universalwissenschaften in Deutschland und warnten davor, dass aufgrund zu großer Sparzwänge, welche auf Kosten der Geisteswissenschaften gingen, Deutschland das klassische Kulturerbe verloren zu gehen droht. Dies gehe einher mit einer wachsenden Sprachlosigkeit im Diskurs zwischen Natur-und Geisteswissenschaften.

Wie beurteilen Sie die Lage heute?

KIMURA: Mein mit Frau Dr. Karin Moser von Filseck, Tübingen, herausgegebenes Buch geht auf ein von mir veranstaltetes Humboldt-Kolleg in Tokyo zurück. Als ich in München studierte, galt die humanistische Universitäts-Idee seit Wilhelm von Humboldt glücklicherweise noch als deutsches Bildungsideal schlechthin. Daß ein so herausragender Physiker wie Werner Heisenberg gern Goethe las und vorzüglich Klavier spielte, war eine Selbstverständlichkeit. Deutsche Kultur wird heute noch nicht zuletzt deswegen in Japan hochgeschätzt. Im 19. Jahrhundert hat doch die akademische Jugend aus der ganzen Welt an den deutschen Universitäten nicht nur Philosophie und Jura, sondern auch Sprachwissenschaft und Medizin studiert. Berühmte Universitäten auf der amerikanischen Ostküste wurden alle aufgrund der europäischen Tradition der Humanities gegründet, so dass beispielsweise Goethe der Harvard University seine Ausgabe letzter Hand mit Freude zum Geschenk machte. Leider musste ich aus nächster Nähe erleben, wie diese wertvolle Bildungstradition seit 1968 in Deutschland zerstört worden ist. Sicher ist eine Bildungsreform wie seinerzeit in Göttingen und Berlin mit der veränderten Zeit immer wieder nötig. Es kommt aber letzten Endes nicht auf Finanzmittel, sondern auf Geisteshaltung an, die ein hohes Bildungsniveau aufrechterhält. Als ein „Deutscher japanischer Herkunft“ habe ich es sehr bedauert, dass klassisches Erbe deutscher Kultur allmählich verloren zu gehen droht, und habe mir deshalb erlaubt, auf eine erneute Notwenigkeit des Diskurses zwischen Natur- und Geisteswissenschaften wie in der Goethezeit hinzuweisen.

HELLENBROICH: Sie sind zusammen mit Ihrem chinesischen Freund, Übersetzer und Herausgeber der Literaturstraße, Herrn Professor Zhang Yushu, einer der wenigen, welche ein besonderes Gespür haben für Zeiten großen Wandels und großer Umbrüche haben. Europa, insbesondere Deutschland ist aus meiner Sicht in Gefahr, sich in kleinlichen Streitereien zu verzetteln und seine große Kulturtradition aufzugeben. Sie sprachen nach Ihrer Rückkehr aus Seoul von „neuen Tendenzen in der ostasiatischen Germanistik.“ Was meinen Sie damit?

KIMURA: Seit meiner Studentenzeit habe ich deutsche bzw. europäische Kultur überhaupt im Unterschied zur japanischen als Streitkultur erlebt. Dies ist der Fall nicht nur in der Politik und Religion, sondern auch in allen Bereichen der Kultur, was sich als Segen und Fluch, als Glück und Unglück für die Europäer erweist, während japanische Kultur im Grunde genommen als laues Bad anzusehen ist. In der deutschen Germanistik als „deutsche Wissenschaft“ leidet man seit 1968 unter einer gewissen Traditionslosigkeit, weil man wohl eine Geschichte der deutschen Literatur, aber aus mannigfachen Gründen keine ausführliche Geschichte der Germanistik schreiben kann. Dagegen ist die ostasiatische Germanistik im Allgemeinen, ausgenommen die japanische in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, damit nicht belastet. Sie ist manchmal unbekümmert um die deutsche Wissenschaftsgeschichte und kann sich aus eigenem Interesse frei bewegen. Sie beherrscht wunderbar die deutsche Gegenwartssprache, interessiert sich aber – mit Ausnahme von japanischen Germanisten- kaum für Mediävistik. So ist sie grundsätzlich didaktisch und kulturwissenschaftlich ausgerichtet. Ich plädiere jedoch immer noch, dass deutsche Germanistik keine Kulturwissenschaft wird, sondern strikt philologisch bleibt.

Kimuras Hauptwerke sind, abgesehen von Übersetzungen, in japanischer Sprache:

Gête-Kenkyu (Goethe-Studien). 3 Bde. Nansosha-Verlag, Tokyo 1976-1985. Doitsu-Seishin-no-Tankyu (Deutsche Geistesgeschichte. Goethe im geistesgeschicht- lichen Kontext) Nansosha-Verlag, Tokyo 1993.

Doitsu-Humanism-no-genten (Ursprung des deutschen Humanismus. Geistesgeschicht-

licher Hintergrund der EU) Nansosha-Verlag, Tokyo 1995.

In deutscher Sprache:

Goethes Wortgebrauch zur Dichtungstheorie im Briefwechsel mit Schiller und in den Gesprächen mit Eckermann. Max Hueber Verlag, München 1965.

Jenseits von Weimar. Goethes Weg zum Fernen Osten. Peter Lang Verlag, Bern 1997. Der „Ferne Westen“ Japan. Zehn Kapitel über Mythos und Geschichte Japans. Röhrig Universitätsverlag. St. Ingbert 2003.

Der ost-westliche Goethe. Deutsche Sprachkultur in Japan. Peter Lang Verlag, Bern 2006.

http://www.frontiere.eu/alexander-von-humboldt-discourse-between-natural-sciences-and-humanities/ http://www.frontiere.eu/1-china-in-der-erdbeschreibung-alexander-von-humboldts/]]>

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